Gänseblümchen
Dieser Text ist vom 4. Mai 2021, und ich habe ihn gerade beim Stöbern in meinen unveröffentlichten Blogposts entdeckt:
Nette Idee, einfach über eine Erinnerung zu einer bestimmten Sache zu schreiben, einfach alles, was mir zum Thema “Gänseblümchen” eingefallen ist.
Okay, damit bin ich wahrscheinlich nicht alleine, mit meiner Liebe zu Gänseblümchen.
Mit fünf oder sechs Jahren habe ich (mindestens einmal) auf der Mauer vor dem Mietshaus indem wir damals wohnten, einen Blumenladen eingerichtet. Ich habe mit Grashalmen, Löwenzahn und eben Gänseblümchen kleine Blumensträuße gebunden und diese zum Verkauf angeboten. In meiner Erinnerung für 10 Pfennig. Ich habe in Preisschild gemalt (oder schreiben lassen?) und aus dem gegenüberliegenden Eichenwäldchen Blätter gesammelt, mit denen ich meinen Ladentisch dekoriert habe.
Ich habe überhaupt gar keine Erinnerung mehr daran, ob mir irgendjemand etwas abgekauft hat, zumal ich auf Laufkundschaft in unserer Sackgassen-Straße nicht wirklich zählen konnte. Und trotzdem ist es einer meiner frühesten und liebsten Kindheitserinnerungen. Es kommt oftmals gar nicht auf den Erfolg an.
Ich erinnere mich an die Frustration, die ich wieder und wieder erlebte, wenn ich feststellte, dass man mit Grashalmen keine Knoten machen konnte um die Sträuße zusammenzubinden. Und ich habe viele verschiedene Halmarten über die Jahre ausprobiert.
Meine Mutter hat mir als Kind mal gezeigt, wie man aus Gänseblümchen Kränze herstellen kann, indem man mit dem Fingernagel einen Schlitz in den Halm kerbt und das nächste Gänseblümchen dadurch fädelt, so dass eine Kette entsteht. Ich habe von opulenten Blumenkränzen geträumt, mit denen ich mein Haupt und die Häupter meiner Lieben schmücke.
An einem heißen Maitag in 2018 auf einer üppigen Gänseblümchenwiese picknickend, habe ich den bislang letzten Versuch gestartet und bin wieder bei Gänseblümchen Nummer fünf gescheitert, will die Kerben aufrissen und mich die Geduld verließ.
So überließ ich Blumenkränze den Profis und freute mich über ihren Zauber, als zwei Kinder anlässlich unserer Hochzeit in ihren blonden Kinderlocken einen Kranz aus Blüten trugen. Für mich stehen diese Gebinde für Leichtigkeit, Freude, Sommer und Langsamkeit - Zeit haben für das was wirklich zählt.
Ich finde Gänseblümchen und auch Löwenzahn toll, weil sie für mich auf eine schönste Art Beharrlichkeit symbolisieren.
Nicht nur einmal habe ich den Beschwerden von Rasenbesitzern gelauscht, die über die Epidemie dieser Frühlingsblüher klagten, die Jahr für Jahr wieder auftauchen und sich auch von den scharfen Klingen der Rasenmäher nicht schrecken lassen.
Sie stehen für mich für das Gute in der Welt, das eben einfach nicht kleinzukriegen ist.
Gänseblümchen stehen für mich auch für barfuß durch’s Gras laufen und vom Tau kalte Füße bekommen, weil es zu früh im Jahr oder zu früh am Tag ist.
Viele Jahre bin ich nicht barfuß gelaufen, weil ich mich, sehbehindert wie ich bin, in zu großer Gefahr vor Verletzungen wähnte. Nun trau ich mich manchmal und genieße es die völlig vergessenen Gefühlswelten meiner bloßen Füße in der Natur wiederzuentdecken.
Beim Barfußlaufen werden sofort Glaubenssätze laut: “Wenn Dich jemand sieht! Die denken alle, Du bist so’ne Hippie-Trulla in der Midlifecrisis!” - Und schwupps: Wieder ein Klischee entdeckt, das ich loslassen darf ;-)
Letztes Jahr habe ich mich in Gehmeditation versucht und durfte den unglaublich schrillen Stimmen in meinem Kopf lauschen, die mich mit diesem und anderen Glaubenssätzen vertraut machten. Ich habe mich von dem Gedanken “Was sollen die Nachbarn denken” so sehr antreiben lassen, dass von Achtsamkeit gar keine Rede mehr seinen konnte.
Ich wollte bloß nicht auffallen durch mein langsames Gehen, welches ich mit der Gehmeditation verband. Immer wieder bin ich, von den Sätzen in meinem Kopf getrieben, schneller gegangen als ich wollte.
Und dann habe ich die Schuhe und Strümpfe ausgezogen. “So, schaut her liebe Nachbarn: Jetzt bin ich auch noch barfuß! Ha!” Nun musste ich langsam gehen und achtsam sein, alleine schon, um keinen spitzen Stein zu übersehen.
Gänseblümchen sind toller als Löwenzahn, weil sie länger halten, wenn man sie pflückt und sie sich in einem kleinen Schnapsglas hinstellt. Ein paar Grashalme gehören für mich zum Arrangement dazu.
2018 war es auch als es mir gelang Gänseblümchen so zu zeichnen, dass sie meinen Ansprüchen genügten. Beim Zeichnen habe ich meine 5fach-Lupe zur Hilfe genommen, in der Hoffnung mein visuelles Defizit auszugleichen und ein Gänseblümchenbild zu schaffen, welches auch “ein Sehender/eine Sehende” hätte gezeichnet haben können.
Ein Wunsch von mir ist es, eines Tages wirklich das zu malen bzw. zu zeichnen, was ICH sehe - Nur das was ich sehe und nicht das, was da eigentlich “hingehört”, ich aber gar nicht sehen kann.
Das hat was mit Loslassen zu tun. Es hat was damit zu tun, zu akzeptieren, was ICH sehe und was eben nicht. Und so träume ich davon, eines fernen Tages, wenn ich diese Fähigkeit erlernt habe, eine Ausstellung zu machen, in der ich neben die Zeichnungen “wie ich die Welt sehe” Fotos von den Motiven hänge, die zeigen, was “ein Sehender/eine Sehende” alles gesehen hätte. So könnte ich die vielgestellte Frage beantworten: “Ja, aber was siehst Du denn eigentlich noch?”
Gänseblümchen kann man sich ins Haar oder hinter das Ohr stecken:
Blumen hinter das Ohr stecken, ins Revers, ins Knopfloch oder wie Hänschenklein darauf herumkauen heißt für mich: Lebensgenuss, Anhalten, Müßiggang.
Mein Vater hatte eine Sekretärin, Fräulein H., die immer eine frische Blume im Haar trug (in meiner Erinnerung jedenfalls). Sie war so fröhlich und lustig, wie ihre Blume. Was wohl aus ihr geworden ist? Trägt sie immer noch Blumen im Haar? Liebe Grüße!