Von Verfall und Wachstum

Foto: ich
2018 am Röggeliner See, Biosphärenreservat Schaalsee

Der letzte "Sonnen-Urlaub" im Frühjahr 2017

Herbst 2018. Ich bin gerade mit meiner Mutter für ein paar Sonnen- und Regentage am Röggeliner See gewesen: Wunderschöne, gemütliche Ferienwohnung mit Kaminofen, Spaziergänge durch die traumhafte Seenlandschaft, Teepausen mit Wolldecken am Steg und den Wandel der Natur genießen, - und ich fühlte mich so krank.

Kurz nach unserer Rückkehr geht die Schule wieder los, und somit auch meine Arbeit als Schulsekretärin. Ich liebe meine Arbeit: Sie ist abwechslungsreich, ich habe ein tolles Kollegium eine sehr nette und mitfühlende Schulleitung, und so freue ich mich, dass es wieder losgeht.

Ich arbeite fünf Tage die Woche, halbtags. In der ersten Woche nach den Ferien merke ich, wie mein Akku plötzlich immer schneller leer wird. Ich muss mich am Donnerstag für den Rest der Woche krank melden.

In der Woche darauf habe ich am Dienstagnachmittag einen Termin bei einer Ergotherapeutin, bei der ich gerade eine neue Therapie begonnen habe. Ich habe geplant, direkt nach der Arbeit zu ihr zu fahren, aber es ist mir schlichtweg nicht mehr möglich - Ich bin total alle! Mit meinen letzten Kräften fahre ich nach Haus und bin verzweifelt: Ich komme doch gerade erst aus den Ferien! Mein Akku müsste voll sein, auch wenn ich unter Rheuma leide und vor einem einen neuen Namen für mein Rheuma bekommen habe: Lupus Erythematodes.

Ich verabrede einen Telefontermin mit der Therapeutin, da ich dringen Unterstützung in dieser Situation brauche. Am Telefon erzähle ich ihr von meiner absoluten Verzweiflung darüber, dass ich doch gerade erst aus dem Urlaub komme und nicht schon wieder so ausgelaugt sein kann. Ich kann mich doch nicht schon wieder krankschreiben lassen!

Ich kann mich noch genau an die Situation erinnern: Ich sitze in meinem kleinen Zimmer und schaue aus dem Fenster, mein Handy am Ohr, als sie zu mir (so ungefähr) sagt:

Eigentlich ist der Herbst die Jahreszeit, zur Ruhe zu kommen, um mit einer Tasse Tee am Fenster zu sitzen
und den Blättern beim Fallen zuzusehen. Das haben wir nur vergessen.

Foto: ich - Schaalsee Herbst 2024

Herbst 2024: Dieser Satz, den meine Ergotherapeutin damals am Telefon zu mir sagte, hat in dem Moment eine derart intensive Reaktion ausgelöst, dass ich mich heute noch ganz genau daran erinnere, wie die Anspannung bei ihren Worten aus meinem Körper wich. Die Anspannung schmolz quasi bei den Bildern, die vor meinem geistigen Auge auftauchten. Ich merkte sofort, am eigenen Körper, wie groß die Sehnsucht nach RUHE, ERHOLUNG, ENTSPANNUNG und Verlangsamung = ACHTSAMKEIT war. Ich konnte die Qualitäten dieser Bedürfnisse im Körper fühlen, als sie die Worte sagte und damit die Bilder in meinem Kopf auslöste.

Meine Sehnsucht war bereits der Schlüssel um die erfüllten Bedürfnisse zu fühlen.

Damals war es für mich unerreichbar, mein Leben so zu leben - entschleunigt, verlangsamt, Zeit und vor allem Mut zu haben, auf meinen Körper und seine Signale zu hören mit allen Konsequenzen: Termine absagen, schon wieder krank melden.

Meine Krankheit, mein Lupus hat mir dann “geholfen”: Es gab keinen anderen Weg, als mich Anfang Januar 2019 erneut krankschreiben zu lassen. Diese Krankschreibung mündete dann in meine Frührente

Heute Morgen, 6 Jahre später sehe ich, dass der Herbststurm die ersten gelben Blätter meiner Glyzinie auf unseren Balkon geweht hat.

Vor ein paar Wochen war ich wieder am Schaalsee. Wieder Herbst, wieder Kastanien, wieder Erschöpfung und Schmerzen, aber etwas ist anders: Ich bin gewachsen und ich wachse weiter. Neben den “Verfall” durch die Krankheiten, das Alter, habe ich etwas gesetzt, das mein Leben bereichert: Wachstum!

In den vergangenen Jahren ist meine KREATIVITÄT, meine ACHTSAMKEIT, meine SPIRITUALITÄT, meine VERBUNDENHEIT mit mir selbst aber auch mit anderen, meine OFFENHEIT, meine AKZEPTANZ, meine SELBSTFÜRSORGE-Fähigkeiten, meine Fähigkeit zu MITGEFÜHL mit mir selbst und anderen und mein innerer FRIEDEN so sehr angewachsen, dass bei all den Einschränkungen, die mir widerfahren, meine Lebensqualität nicht schrumpft.

Das schönste ist, dass ich weiß, dass es so weitergehen kann: Es gibt etwas, das bei allem Verfall wachsen und gedeihen kann und das ist mein Erleben, der Fülle meiner Bedürfnisse!

Heute kann ich selbst Bilder und damit Emotionen wachrufen, die vor all den Jahren meine Ergotherapeutin mit ihren Worten ausgelöst hat, die mich mit eben dieser Fülle meiner Bedürfnisse verbinden.

Das alleine gibt mir so viel ZUVERSICHT und HALT, dass ich dieses Erleben gerne mit anderen teilen möchte.

Herbst 2024

Auch wenn ich heute keine “Sonnen-Urlaube” mehr machen kann, in denen ich mich auf Liegestühlen in der Sonne aale und auch sonst sehr viele Vorkehrungen treffen muss, um meinen Alltag so zu gestalten, dass mein Wolf (Lupus) mich nicht in den Hintern beißt, habe ich so vieles gelernt, was mir so unglaublich kostbar ist und was mein Leben immens bereichert.

Wenn ich nun also hier sitze, bei einer Tasse Tee und den Blättern beim Fallen zusehe und auf all das Erlebte zurückblicke, fühle ich mich reich: Ich habe dutzende neuer Werkzeuge zur Hand, die es mir ermöglichen, etwas wachsen zu lassen, während etwas anderes vergeht!

Ich würde mich freuen, von Deinen Erfahrungen zu hören. Schreibe mir gerne einen Kommentar oder eine E-Mail.

Herzlichst
Deine Katrin

Buchholz, den 11. September 2024

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