DER GARTEN

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Verlangsamung - ganz sutsche

Photo: Unsplash

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So, ich habe es getan: Mich auf die Piazza Santo Spirito gesetzt und mein Notebook aufgeklappt.

Es ist wunderbar! Ich sitze in Mitten des lebendigen Treibens und der Kellner hat mir keinen Vogel gezeigt und mich rausgeschmissen, sondern meine Bestellung aufgenommen. Das hier ist ein riesiger Schritt für mich!

Wäre dieser Platz in Kreuzberg, würden hier mindestens 20 Menschen an ihren Notebooks sitzen. Hier bin ich die einzige. Mein Gehirn dreht fast durch, so viele Glaubenssätze wie es grade rausschleudert.

Und ich bleibe ruhig, genieße die Gerüche und Geräusche des Sommerabends und die angenehm vielen ItalienerInnen die mit ihrem Stimmengewirr die Stimmung prägen. Es ist Sommer in Florenz, Menschen treffen sich, feiern das Leben und ich habe zum ersten mal das Gefühl, dass ich dabei sein darf!

Heute Morgen war ich auf der Suche nach einem kleinen Café das glutenfreies Essen anbieten soll, das hier ganz in meiner Nähe sein sollte. Als ich in der Straße ankam, konnte ich es nicht finden. Wieder ging ich 3x die Mini-Straße entlang und hatte dieses fiese Gefühl, wieder alleingelassen worden zu sein, weil es auch diesen Laden anscheinend nicht mehr gab.

Dann beim genaueren Hinsehen, war er doch genau da, wo er hingehörte, er passte nur nicht zu den Vorstellungen, die ich vor meinem geistigen Auge von dem Café hatte: Er war eher in dunklen Farben gehalten, in meiner Fantasie war er aber eher hell! :-)

Als ich ihn dann gefunden hatte, trat gar keine Freude darüber auf, sondern direkt Traurigkeit, darüber, dass meine Augen so schlecht geworden sind, dass ich jetzt anscheinend alles 3x absuchen muss, bevor ich es finde … Was war das denn für eine Scheiß-Laune!?

Zum Glück hatte ich mir vor vier Wochen einen Folgetermin für mein Somatik-Couching (via Zoom) für genau diesen Vormittag vereinbart, da mir ja bewusst war, dass es eine herausfordernde Zeit werden könnte. Ich war sehr glücklich mich über all diesen Seelensumpf mit meinem Coach austauschen zu können!

Schon während ich im „CARDUCCIO“ saß und den Versuch unternahm, mal italienisch zu Frühstücken, in meinem Fall mit Apfelkuchen und Latte Macchiato, veränderte sich meine Laune, da mir dieses Café sehr gut gefiel.

Ich habe mir von dem Kellner erklären lassen, dass sie durchgehend geöffnet haben und viele der Gerichte auf der Karte glutenfrei sind.

Irgendwie gab mir dieses Gespräch wieder das Gefühl von Unterstützung und Verbindung: Das Thema Zöliakie und alles was damit zusammenhängt ist für mich wirklich emotional ziemlich aufgeladen.

Als das Coaching durch war, bin ich in den Laden mit den Mal- und Zeichenutensilien gegangen, den ich schon am ersten Abend gesehen hatte und habe mir ein kleines quadratisches Sketchbook und ein Radiergummi gekauft. Ich möchte gerne etwas im Rucksack haben, was ich unkompliziert nutzen kann, um einfach mal wieder ans Zeichnen zu kommen. Vielleicht nähere ich mich so langsam meinem Vorbild: Der Dame, die im Irisierten mit ihrer Staffelei saß.

Es war ein wundervoller Nachmittag und mit 24 Grad nicht zu heiß. Ich bin nur im T-Shirt raus, weil die Straßen hier in Oltrano in der Regel so schmal sind, dass meistens einer der Bürgersteige, der einspurigen Straßen, die von hohen alten Häusern gesäumt sind, im Schatten liegt. Das bedeutet für mich, dass ich mich von Schatten zu Schatten bewegen kann und an einem Tag mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein ganz ohne Sonnenschutzkleidung oder Sonnenschirm rausgehen kann. Das wäre bei mir zu Hause so nicht möglich.

Ich habe das sehr genossen, und es war totaler Luxus für mich!

Als nächstes bin ich am „La Via del Tè“ vorbeigekommen, das ich auch auf meinem „Wunschzettel“ stehen hatte. Hier wird ein richtiger Afternoon Tea angeboten, aber leider nicht in glutenfrei. Aber man konnte mir eine Sorte Kekse anbieten und sie hatten glutenfreies Brot, was mit Butter und Marmelade serviert werden konnte.

Ich habe mir einen wunderbar ruhigen Platz im schattigen Innenhof ausgesucht und mich für die Marmeladnebrot Variante entschieden. Als ich wieder aufspringen wollte, weil ich „fertig“ war, habe ich mich gestoppt: Jetzt mal sitzen bleiben für drei entspannte Atemzüge und mal die Sinne für den Moment öffnen: Da waren die italienischen Stimmen aus einem geöffneten Fenster, der Windzug, der über den Hof ging, die „Schreie“ der Schwalben, die ihre Kreise über den strahlend blauen Himmel zogen und deren Schatten über die Hauswand flogen. Ich spürte in meine Füße, die fest auf dem Florentiner Boden standen und genoss die Ruhe dieses Ortes. Jetzt, hier!

Statt direkt wieder nach Hause zu gehen, entschied ich mich noch etwas die direkte Umgebung meiner Ferienwohnung zu erkunden. Es war ein wunderbar entspannter Spaziergang, der über zweieinhalb Stunden ging und mich an schönen Entdeckungen vorbeiführte.

Ich habe den Eingang zu des Boboli Gartens entdeckt, der hier ganz bei mir in er Nähe ist. Hier habe ich dann nachfragen können, ob ich als schwerbehinderte Person auch hier kostenlosen Eintritt habe: In allen Florenz Museen, sagte mir die Dame am Eingang, habe ich kostenlosen Eintritt - welch Freude!

Unweit des Eingangs habe ich einen Wein- und Käseladen gefunden: „Toscan Taste“, der sich unter anderem auf Picknickboxen spezialisiert hat. Dazu muss ich nochmal nähere Erkundigungen einholen, da ich die Idee unglaublich genial finde. Fürs Erste habe ich mich mit einer Angestellten über die glutenfreien Optionen unterhalten, die sie anbieten: Hier gibt es zu den Wurst- und Käsespezialitäten abgepackte Kräcker und Grissini. Was auch interessant war, dass sie ein System von drei verschiedenen Vitrinen haben, in denen jeweils ca. 7 Flaschen Weiß-, Rot- und Roséwein ausgestellt sind. Man kann dann mit einer digitalgesteuerten Zapfanlage wählen, ob man einen Probierschluck zapfen möchte oder ein ganzes Glas.

Wie cool ist das denn? Der Laden kommt auf jeden Fall auf meine Wunschliste und ich werde berichten.

Es gibt hier in der Ecke von Florenz unglaublich viele ruhige und schöne Ecken, die mich immer wieder überraschen. Direkt neben trubeligen Touristenattraktionen liegen schmale schattige Gassen mit kleinen Lokalen.

Nun sitze ich immer noch hier am Piazza Santo Spirito und noch niemand hat mich „schräg angeguckt“. Ich bin gespannt, ob damit für mich das Eis gebrochen ist, oder ob es auch die nächsten Male wieder so ein Angehen sein wird.

Auf jeden Fall hat mir der Zuspruch meiner Freundin (Grüße) gerade geholfen und ich habe statt der Alibi-Postkarten direkt mein Notebook rausgeholt!

Die ganzen Dinge, die ich hier zum ersten Mal mache kosten mich halt alle mehr oder weniger viel Mut: Pfefferminze kaufen auf italienisch, alleine „ausgehen“, alleine mit Blindenstock reisen, immer wieder mit Menschen ins Gespräch kommen, um herauszufinden, ob es etwas zu essen für mich gibt oder erklären, dass ich mehr Informationen brauche, weil ich nicht gut sehen kann.

All das ist anstrengend für mich und ich möchte lernen, das zu berücksichtigen.

Ich möchte langsamer werden mir „Zeit nehmen“ und zur Ruhe kommen - „Sutsche machen“, wie die Hamburgerin sagt. - ganz sutsche!

Und auch jetzt möchte ich mir drei Atemzüge Zeit nehmen und meine Sinne öffnen: das zarte, hohe Piepsen der Spatzen, dass unter dem immer lauter gewordenen italienischen Stimmengewirr der feiernden Menschen hervordringt, das Geräusch klappernder Stühle und Tische, die aufgestellt werden, um noch mehr Menschen einen Platz zu bieten und wieder die Schreie der Schwalben am Himmel. In sieben Minuten wird wieder die Glocke von Santo Spirito klingen, der zarte Luftzug, der mir um Hals und Gesicht weht ist Kühler geworden und mein Hintern fängt langsam auf den harten Metallstühlen an zu schmerzen. Es richt nach Zigarettenrauch, frischer kühlerer Abendluft, nach Parfüm und der Zitrone in meiner Cola.

Ich habe es geschafft! Ich war wieder mal mutig und freue mich darüber, dass ich meine Komfortzone erweitert habe! Das ist es, was ich meiner Freundin vorhin am Telefon noch sagen wollte: Dadurch, dass wir immer mal wieder den großen Zeh in die Zone der Herausforderung tippen, verwandelt sich diese! So wird der Kreis der Komfortzone größer und größer, indem wir auf einmal komfortable sind, wenn wir mit dem Notebook auf der Piazza sitzen - na ja, fast jedenfalls ;-).

Hab eine schöne Zeit! Ich freue mich, dass Du mich begleitest!

Liebe Grüße aus Florenz
sendet Dir Deine
Katrin