DER GARTEN

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Zero - Null - Nischte -

Photo by David Clode (unsplash.com)

Zum Glück ist alles relativ!

Als ich vor einem Jahr beim Augenarzt war, weil ich das Gefühl hatte, mein Sehen hätte sich verschlechtert, hatte ich einen Visus von 0,5 %. Das bedeutet, dass man beim Sehtest nur noch die allergrößte Zahl sieht - übrigens mit beiden Augen, nicht nur mit einem … :-)

Seit Jahren ist mir die größte Zahl auf den Sehtesttafeln sehr vertraut. Ich erinnere mich noch gut daran, mit einer Brille auch mal die Zahlen in der zweitgrößten Größe gelesen zu haben. Aber mehr war dann auch schon lange nicht mehr rauszuholen.

Nun war ich wieder beim Augenarzt und die mir so vertraute 5 war nicht mehr zu sehen. Ich habe die Dame, die das Gerät bediente gefragt, ob sie sich sicher sei, es eingeschaltet zu haben. Sie hatte und die 5 war weg. Das hat mich schwer beeindruckt.

Mir war klar, dass sich mein Sehen in den letzten 12 Monaten weiter verschlechtert hat, aber das sogar die 5 verschwindet - wow! Das hat mich dann noch umgehauen.

Meinen Bilindenstatus habe ich bereits seit vielen Jahren, nachdem sich mein Sehen bei einem Schub drastisch verschlechtert hatte. Aber trotzdem war es für mich nur eine kurze Zeit der Anpassung, die schwierig war. Mein Kind war bereits in einem Alter, in dem ich keine Angst zu haben brauchte, dass es in einer Pfütze ertrinkt, und es konnte mir sogar schon helfen, die Busnummern vorzulesen. Es war gutes Timing, dass dieser Schub nicht schon früher kam, als mein Kind mir noch mehr visuelle Aufmerksamkeit abverlangte.

Ich habe es nicht als tragisch empfunden, da es meiner Erfahrung nach nichts Wichtiges gab, was ich nicht sichtbar machen konnte. Mit Lupe, Monokular, Handy und Vergrößerungssoftware war alles irgendwie zu wuppen.

Nun ist das anders: Es gibt Dinge, die kann ich nicht mehr sichtbar machen. Ein Blick in den Spiegel, auch wenn er 10fach vergrößert, gibt mir nicht mehr alle Informationen - Ja, manchmal ist das auch von Vorteil.

Ich kann nicht mehr sehen, wer bei mir zuhause auf dem Sofa lümmelt. Zum Glück ist die Zahl der möglichen Personen begrenzt, aber dennoch hinterließ es das erste Mal ein unglaubliches Gefühl der Unsicherheit, als ich nicht mehr sehen konnte, ob es sich um unordentliche Sofakissen oder mein Kind oder sogar mein Kind handelt. Und selbst als ich näher herantrat konnte ich erst auf einen Meter erkennen, dass es sich um zwei Personen handelte und wer wer war, war nur akustisch für mich herauszufinden, da mir die Schärfe im zentralen Sehen dafür einfach fehlte.

Als ich mein schlechteres Sehen mit einem neuen Rechner “belohnte”, bemerkte ich, dass ich gerade dabei war, mal wider die Trauerphase zu überspringen. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich die nächste schicksalshafte Veränderung in meinem Leben ganz bewusst wahrnehmen wollte. Dazu gehörte für mich auch, das Leiden was durch die Veränderung entstand zu erkennen und anzuerkennen.

Als ich eines Tages in das Zimmer meines Kindes kam, um ihm etwas zu sagen, schaute ich mich suchend um und wollte wieder gehen, als ich es nicht fand. Da hörte ich ein Geräusch: Mein Kind lag lesend auf dem Bett, so dass ich es nicht wahrnahm.

Da begriff ich, was es galt zu betrauern und zu verdauen: Ein eigenes Kind nicht mehr “sehen” zu können, sich nicht mehr zuhause sicher zu fühlen, dass hatte noch mal eine ganz neue Qualität!

Ich überlege gerade, wie es mir gelungen ist, dass alles zu verarbeiten. Ich kann es gerade gar nicht weiter erklären, als dass ich mir das Leiden bewusst gemacht habe. Mir klar werden, was es bedeutet, weniger sehen zu können - ganz konkret. Ja, ich habe geweint, aber es war wichtig. Ich glaube heute, dass mich fehlende Trauerphasen haben krank werden lassen. Ich glaube, trauern ist gesund.

Trauern heißt für mich Selbstmitgefühl. Es ist schwierig, da die Grenze zum Selbstmitleid manches Mal sehr schmal ist. Aber: Übung macht den Meister. Und, wie das Leben so ist, wird ein jeder so mache Trainingsgelegenheit im Leben erfahren, die uns selbstmitfühlendes Trauern lehren kann ;-)

Mittlerweile erlebe ich mich interessanterweise nicht verzweifelt, was mich selbst etwas wundert. Ich empfinde eine tiefe, ehrlich Dankbarkeit für die wunderbare Peripherie meiner Makula, also den äußeren Rand der Netzhaut, die mir trotz aller Blindheit noch so viel zu sehen erlaubt.

Es scheint für mich wie ein Wunder, dass ich all das, was ich sehen kann, so ehrlich feiern kann. Ich habe zum ersten Mal den Eindruck, dass ich einen Schicksalsschlag mal nicht rosa anstreiche, irgendetwas verdränge oder mir schönrede, sondern dass Dankbarkeit und Bewusstheit für das Leiden, das durch die Verschlechterung entsteht, nebeneinander da sein können.

Also bin ich die Königin unter denen, die “wirklich” blind sind. Die Menschen, die nur noch hell und dunkel sehen können oder noch nicht einmal mehr das, und das feiere ich!

Ich glaube, dass ich viel von den alten Bilder in meinem Kopf und von Fotos und Film und Fernsehen profitiere. Das sind quasi alles HD Images, die mein Gehirn abgespeichert hat und die es netterweise im Alltag zu ergänzen vermag.

Ich weiß halt, wie meine Familie aussieht: aus der Erinnerung und von Fotos oder Video-Calls. Dadurch fällt es mir nicht so auf, wenn ich neben ihnen am Tisch sitze und ihre Gesichter nur noch verwischt zu sehen sind - eigentlich. Die “blurry faces” ersetzt mein Gehirn dann mit dem, was es zu den Personen gespeichert hat.

Manchmal sind die Bilder veraltet. Gerade, wenn ich, wie heute, Menschen wiedersehe, die ich lange Zeit nicht mehr “gesehen” habe, werden sie davon profitieren*, weil ich nur Gesichter abgespeichert habe, die ein paar Jahre alt sind.

*Ist natürlich auch Blödsinn mit dem “profitieren”, da es ja auf die inneren Werte ankommt. Außerdem bin ich der Meinung, dass Menschen (außer mir natürlich :-) mit dem Alter schöner werden …

Es geht soweit, dass sich mein Gehirn Gesichter ausdenkt, zu Menschen, die ich noch nie “richtig” gesehen habe. Das bemerke ich aber nicht, da mir der Vergleich fehlt.

Das erste Mal habe ich das festgestellt, als ich Fototaschen vom Fotografen an KollegInnen verteilen wollte. Da hatte ich dann plötzlich eine Fototasche von einer Person in der Hand, die ich nicht er*kannte. Ich habe dann das Ausschlußverfahren angewandt, da es zum Glück die einzige Person war, deren Foto ich nicht zuordnen konnte. Die Fotos stimmten so gar nicht mit “meinem Bild” überein. Auch die anderen KollegInnen hatten sich seit dem Austeilen der Fotos im Vorjahr verändert, so dass mein Gehirn mit den Porträtfotos ein Update erhielt :-)

Hat aber nicht lange angehalten das Update, weil ich dazu die Fotos hätte “auswendig lernen” müssen, damit sich dieses Bild verfestigt. So habe ich also die Menschen aus meinem Umfeld mit dem Bild abgespeichert, das entstand, als ich sie das letzte Mal sehen konnte.

Obwohl oder gerade weil mir niemand ansieht, dass ich blind bin, bin ich nun in der Situation, dass ich mir einen Blindenstock anschaffen werde.

Ähnlich wie bei einem Hörgerät oder einem Rollator braucht es glaube ich die Akzeptanz des Ist-Zustands. Außerdem ist es hilfreich, wenn man sich Vorteile durch die Nutzung eines solchen Hilfsmittels ausrechnet.

Ich weiß noch nicht, wie es sein wird, mit einem Blindenlangstock durch die Welt zu gehen. Ich spüre auf jeden Fall, dass es auch Ängste auslöst, sich so verletzlich zu zeigen. Ich freue mich auf jeden Fall, dass ich bereits bei der Recherche nach Organisationen, die einem den Umgang mit dem neuen Gerät vermitteln, schon so tolle und hilfreiche Menschen getroffen habe.

Eines weiß ich zum Glück ganz genau - und auch dafür bin ich zutiefst dankbar: Ich werde das Beste aus der neuen Situation zu machen wissen. Aus Scheiße Karamellbonbons - dafür bin ich bekannt!